Was Kintsugi mit Struktureller Dissoziation gemeinsam hat

Kintsugi ist eine alte japanische Tradition, mit der die Scherben zerbrochener Schalen zu einzigartigen Kunstwerken wieder zusammengefügt werden. Was hat Kintsugi mit
Struktureller Dissoziation
und Traumatherapie zu tun? Davon wird in der neuen Therapiegeschichte erzählt.

Kintsugi ist Handwerk und Kunstform zugleich.
Zerbricht eine wertvolle Keramikschale, werden die Scherben mit dieser traditionellen Handwerkskunst behutsam wieder zu einem Ganzen zusammengefügt. Dabei werden die Scherben der Schale nicht einfach zusammengeflickt, damit die zerbrochene Schale ihre Funktion zurückerhält. Die Bruchkanten der Scherben werden sorgsam mit einem besonderen Kitt verbunden und mit Goldstaub lackiert.
Kinsugi-Schalen zeigen ihre Narben. Jede Kinsugi-Schale sagt damit: Ich war zerbrochen. In viele Teile. Ich bin wieder ganz. Das hat viel Zeit und Anstrengung gekostet. Jetzt strahle ich in wunderbarem Glanz und kann wieder Neues aufnehmen.
Artikel über Kintsugi haben Überschriften wie „Wenn Zerbrochenem neues Leben eingehaucht wird“ oder „Die Schönheit des Zerbrochenen„. Zahlreiche Fotos von traumhaft schönen Kinsugi-Schalen sind z.B. auf Pinterest zu finden. YouTube-Videos über Kintsugi tragen Titel wie „Be Proud of your Scares“ oder „The Art of Embracing Damage“ oder „From a Broken Past to a Bright Future“.

Strukturelle Dissoziation bescheibt die Aufteilung der Persönlichkeit durch Gewalt- und/oder Bindungstraumatisierungen. Bei der chronischen traumabezogenen strukturellen Dissoziation der Persönlichkeit ist die Seele ähnlich in Scherben gegangen wie bei einer zerbrochen Schale.
Bei der primären strukturellen Dissoziation durch ein Monotrauma ist eine Ecke von der Schale abgeplatzt. Bei der sekundären strukturellen Dissoziation durch Komplextrauma ist die Schale in einige Scherben zerbrochen. Bei der tertiären strukturellen Dissoziation ist die Schale in viele Bruchstücke zersplittert.

In der Traumatherapie geht es darum, Zerbrochenes behutsam wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen. Bei komplexen Traumafolgestörungen, ganz besonders bei frühen Traumatisierungen, gibt es viele „Seelen-Scherben“, die behutsam aufgespürt, sorgsam an ihren Platz gebracht und liebevoll miteinander verbunden werden müssen.
Ähnlich wie Kintsugi kann auch Traumatherapie als eine Art Handwerk betrachtet werden. Das Handwerkszeug der Traumatherapie besteht zum einem in dem Psychotherapieverfahren, das Anwendung findet. Zum anderen gehört zum Handwerkszeug der Traumatherapie das Wissen um das Wesen der strukturellen Dissoziation genauso wie traumatherapeutische Konzepte und Methoden.

Kintsugi braucht nicht nur Wissen über die Beschaffenheit des Materials und mit welchen Mitteln und Werkzeugen eine zerbrochene Schale repariert weden kann. Kintsugi verwendet einen besonderen Werkstoff für das Verbinden der Einzelteile zu einem Ganzen. Kintsugi benutzt dafür besonderen Kitt.
In der Traumatherapie ist dieser besondere „Werkstoff“ die Bindung.
Menschen haben ein angeborenes Bedürfnis nach verlässlicher emotionaler Nähe zu anderen Menschen. Ohne sichere Bindung findet ein Kind keine Orientierung in sich selbst und deshalb auch nicht in der Welt. Frühkindlich Traumatisierte haben aber von Anfang an gelernt: Menschen tun weh, die Welt ist ein gefährlicher Ort. Sie müssen in einer Traumatherapie erst lernen, wie gute Bindung geht.

Einer der wichtigsten Wirkmechanismen in der Gestalttherapie ist Kontakt. Kontakt bedeutet aus gestalttherapeutischer Sicht soviel wie Verbindung, Berührung, Begegnung oder auch Beziehung mit sich und der Welt. Eine Grundannahme der Gestalttherapie lautet: Das Ganze ist mehr als die Summe aller Teile. Die Teile brauchen Verbindung, um ein Ganzes zu sein. Der besondere Werkstoff in der Gestalttherapie, der dabei hilft, dass Getrenntes wieder verbunden werden kann, ist Kontakt. Ver-bindung schafft Bindung.
In-Kontakt-treten mit sich selbst bedeutet auch aus Sicht der Traumatherapie soviel wie: verbinden, was zusammengehört. Die „Seelen-Scherben“ brauchen Verbindung. Sie wollen ganz sein. Der „Kitt“ der Traumatherapie ist Bindung.

Kintsugi-Schalen machen die Schönheit des Zerbrochenem sichtbar. Kintsugi lehrt die Kunst, Beschädigtes zu umarmen und so aus Scherben einzigartige Kunstwerke entstehen zu lassen.
Kintsugi bedeutet Goldverbindung, wird manchmal auch Goldreparatur genannt. Gold steht symbolisch für die Vollkommenheit der Seele.
Die „Lackierung der Kontakt-Flächen von wieder verbundenen Seelen-Scherben mit Goldstaub“ ist etwas, das keine TraumatherapeutIn „machen“ kann. Wenn aber TherapeutIn und KlientIn gemeinsam jeweils ihren Teil der Arbeit mit viel Geduld, Achtsamkeit und Respekt machen, fügt die Seele selbst den Goldstaub hinzu.

Trauma-Heilung hinterläßt Narben.
Die Narben erzählen davon, dass eine schwere Verletzung überlebt wurde.
Es wurde ein Weg vom Überleben in ein eigenes, freies, selbstbestimmtes Leben gefunden.

Be Proud of your Scares.
Sei stolz auf deine Narben. Sie zeigen: Ich war zerbrochen. In viele Teile.
Ich bin wieder ganz. Das hat viel Zeit und Anstrengung gekostet.
Jetzt strahle ich in neuem und einzigartigem Glanz und kann das Leben aufnehmen.
Ich habe es geschafft.

From a Broken Past to a Bright Future.
Werde, wer du wirklich bist. (Alison Miller)

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6 thoughts on “Was Kintsugi mit Struktureller Dissoziation gemeinsam hat”

  1. Total witzig irgendwie. Ich befinde mich gerade in Traumatherapie und habe es geschafft das erste traumatische Erlebnis zu zu lassen. Ich führe ein Tagebuch und kam genau auf den gleichen Gedanken. Irgendwann werde ich ganz sein, wie eine japanische Schale. Ich finde diesen Gedanken unglaublich schön. Danke das Sie in Teilen.

    1. Ich freue mich sehr über Ihren Kommentar. Herzlichen Dank.
      Wie schön, dass der Gedanke, dass es einen Weg gibt, irgendwann ganz zu sein, Sie schon begleiten darf. Die Schönheit des Wieder-verbunden-seins ist eine ganz besondere. Eben wie diese japanischen Schalen. Oder wie die Gestalttherapie sagt: Das Ganze ist mehr als die Summe der Einzelteile.

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