Aussagepsychologie vs. Psychotraumatologie

In der aktuellen Ausgabe (Nov./Dez. 2017) des Magazins EMMA ist ein mehrseitiger Artikel erschienen, der sich mit Glaubhaftigkeitsgutachten bei Sexualstraftatsprozessen befasst.

Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung werden nur selten zur Anzeige gebracht.
Betroffene schweigen aus Angst vor dem/den Tätern, aus Scham, aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird bzw. dass sie die Belastungen durch die polizeiliche Vernehmung und den Strafprozess nicht aushalten können.
Bei geschätzten 160.000 Vergewaltigungen pro Jahr werden ca. 8.000 Anzeigen erstattet, wobei es nur zu 1.000 Verurteilungen kommt.

Bei Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch und Vergewaltigung ist aus juristischer Sicht die Beweislage oft schwierig. Sexualisierte Gewalt findet im Verborgenen statt.
Wenn Zeugen fehlen, steht es Aussage gegen Aussage.
In solchen Fällen kann das Gericht ein Glaubhaftigkeitsgutachten anordnen.
Geprüft wird die Glaubhaftigkeit des Opfers – nicht die des (mutmaßlichen) Täters.
Dabei wird die sogenannte „Nullhypothese“ angewandt. Das bedeutet, dass der Gutachter zunächst davon ausgeht, dass die Aussage unwahr ist und dann Belege für das Gegenteil zu ermitteln versucht.

Die EMMA-Redakteurin Chantal Louis beleuchtet in ihrem Artikel „Besonders feine Kreise“ diese gängige Praxis in deutschen Gerichten und lässt namhafte Fachleute für Psychotraumatologie und Traumatherapie zu Wort kommen:

BESONDERS FEINE KREISE

Louis schreibt u.a. über Max Steller, der als Professor für Forensische Psychologie und Gutachter beim Zentrum für Aussagepsychologie in Berlin tätig war:

„Er warnt vor „übertriebenem Opferschutz“ und „Übereifer beim Aufdecken von Sexualstraftaten“.

Und der führe zwangsläufig zu Falschaussagen, will heißen: Falschbeschuldigungen, und damit zu den besagten Fehlurteilen. Zahlen und Statistiken dazu kann der Professor zwar keine vorlegen, aber eins weiß er ganz genau: „Die Zahl ist größer als bisher angenommen.“
Was hat der Aussagepsychologe an den Therapeutinnen und Therapeuten zu kritisieren, die mit traumatisierten Opfern von Sexualstrafttaten an deren Heilung arbeiten? Ganz einfach: Dass die Traumatologen „behaupten, es gäbe so etwas wie fragmentarisches Erinnern an ein Trauma oder gar vollständige Verdrängung“.

So etwas sei höchstwahrscheinlich eine „Scheinerinnerung“, denn Gutachter Steller weiß: „Das kann nicht sein“. Denn: „Sexuellen Missbrauch vergisst man nicht“.“

Louis berichtet auch über den Strafverteidiger Johann Schwenn:

„Auch er klagt über Falschbeschuldigungen, denen „unschuldige Männer“ ausgesetzt seien, schlägt aber einen noch schärferen Ton an als der Aussagepsychologe in Köln. Fachberatungsstellen wie Zartbitter oder Wildwasser diffamiert er als „zwielichtige“ und „vulgärfeministisch geprägte Vereine“. Solche Vereine, wettert er, „sind des Teufels“.

Und ganz wie Gutachter Steller, hält auch Strafverteidiger Schwenn nichts, aber auch gar nichts von der Psychotraumatologie. So sei die Posttraumatische Belastungsstörung ein „interessengesteuertes Modekonstrukt“, das gar nicht existiere. Die Schockstarre als Reaktion auf ein traumatisches Einwirken – gibt es gar nicht!

Bei einem anderen Vortrag behauptete der Jurist schlichtweg: „Die Psychotraumatologie ist keine Wissenschaft!“
Da ist sich Schwenn einig mit der Frau, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Welt wissen zu lassen, was die Herren Schwenn und Steller zum Thema Falschbeschuldigungen und Scheinerinnerungen zu sagen haben: die Journalistin Sabine Rückert.

Die Journalistin Rückert [sitzt] an der Seite des Gutachters auf dem Podium und erklärt: „Die herrschende Meinung wird heute von hochideologisierten Feministinnen dominiert, die Frausein mit Opfersein gleichsetzen.“

Die gesamte „Zunft der Traumatologen“, schwadronierte sie in einem Artikel, sei nichts weiter als eine „Glaubensgemeinschaft“. Will heißen: Keine Profis, sondern eine Art Sekte.“

Die EMMA-Redakteurin Chantal Louis stellt fest:

„… der Gutachter Steller, der Jurist Schwenn und die Journalistin Rückert sind zwar die medial präsentesten, aber bei weitem nicht die einzigen in Deutschland, die der Psychotraumatologie den Krieg erklärt haben. Und diese Kriegserklärung ist kein Zufall. Denn die Frontlinie verläuft zwischen Tätern und Opfern.
International ist die Psychotraumatologie eine hoch anerkannte Disziplin, die sich seit ihrer Konstituierung für die Opfer interessiert.

Während sich die Traumaforschung zunächst mit den Opfern des Holocaust, von Krieg, Verkehr und Naturkastrophen widmete, holten Feministinnen gleichzeitig das ungeheure Ausmaß der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Frauen aus dem tiefen Dunkel ans Licht. Zunächst arbeiteten beide getrennt voneinander. Doch schließlich trugen Traumatologie und Feminismus ihre Erkenntnisse zusammen.

Der rasante Fortschritt bei den bildgebenden Verfahren macht es möglich, die veränderten Abspeichervorgänge im Gehirn sichtbar zu machen.
Darum fordern Psychotraumatologen schon länger, die Prämissen der Aussagepsychologie, die nur in Deutschland seit Jahrzehnten als gutachterlicher Standard gelten, an den aktuellen Stand der Wissenschaft anzupassen.“

Laut Louis kommt der klinische Psychologe und Traumafachberater Malte Meißner, der sich mit internationalen Studien zur Aussagepsychologie beschäftigt, zu einem „vernichtenden Urteil“:

„Die Aussagepsychologie entspricht nicht nur heute nicht dem Stand der Wissenschaft – sie tat es noch nie. „Die Aussagepsychologie ist keinesfalls als ein im wissenschaftlichen Sinne objektives Verfahren zu verstehen“, sagt Meißner.“

Louis schreibt weiter: „VertreterInnen der attackierten Zunft sind über die diffamatorischen Angriffe irritiert, ja empört.“ und schenkt in ihrem Artikel u.a. folgenden Traumatherapeutinnen Gehör:

„Es ist wie ein „Déja-vu“, sagt Claudia Fliss. Die Bremer Psychotherapeutin hat den Backlash in den 1990er-Jahren am eigenen Leib erlebt. Damals wurde sie vom Erfinder des „Missbrauch des Missbrauchs“-Slogan, dem linken Pädagogen Prof. Reinhard Wolff, verklagt, weil sie ihm in einem Vortrag die Nähe zu Pädophilen-Organisationen unterstellt hatte. Sie gewann den Prozess.
Heute erlebt Fliss „eine zweite Welle“ des Backlashs, berichtet sie. Gerade zum Beispiel hätten zwei Ärzte einer Psychoklinik bei der Psychotherapeutenkammer Beschwerde über sie eingelegt. Sie formulierten die „Sorge“, dass Fliss die „dissoziativen Störungen“ einer Patientin „verstärkt, womöglich sogar induziert“ haben könnte.
Interessant sei das, sagt die Therapeutin. „Den Vorwurf der Suggestion hören wir nur bei sexueller Gewalt. Da muss man doch mal nach der Motivation derjenigen fragen, die uns so aggressiv attackieren.“

Auch Michaela Huber kennt, wie Claudia Fliss, die Zirkel schon aus den 1990ern, die immer noch aktiv sind oder ihre NachfolgerInnen in Stellung gebracht haben.

Dabei seien die Vorwürfe, die der Traumatologie gemacht würden, geradezu lächerlich. Keine Wissenschaft? „Wir ziehen unsere Erkenntnisse aus zahllosen Forschungsergebnissen aus dem gesamtem Medizinfeld von Hirnforschung bis Endokrinologie“, sagt Huber. „Zu behaupten, es gäbe keine Postraumatische Belastungsstörung ist so, als wenn man in der Inneren Medizin behaupten würde, es gäbe die Diagnose Diabetes Typ II nicht. “
Was über die Psychotraumatologie verbreitet wird, sei „eine ganz raffinierte Art von Propaganda“. Das Ziel: „Die Betroffenen einzuschüchtern und die Helferinnen zu desavourieren.“

Louis wirft einen unbestechlichen Blick auf machtpolitische Interessen, zeigt in Fallbeispielen die Folgen für Opfer und deren parteiliche HelferInnen, und erinnert an die Rolle des Feminismus bei der Aufdeckung von „ganz normaler“ sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Kinder im häuslichen Umfeld genauso wie durch Seilschaften, denen ebenso wie Einzeltätern daran gelegen ist, dass das „bestgehütete Geheimnis“ unter dem Mantel des Schweigens begraben bleibt.

Der gut rechertierte Artikel „BESONDERS FEINE KREISE“ von Chantal Louis ist äußerst lesenswert.

Das EMMA-Heft mit dem vollständigen Artikel (Seite 34-41) ist im gut sortierten Zeitschriftenhandel erhältlich oder kann online bestellt werden (Heft oder eMagazin).

Weitere Artikel der aktuellen Ausgabe befassen sich u.a. mit den Themen Sexismus, Prostitution und Pornografie.

zum Weiterlesen:

ARTIKEL

TERRE DES FEMMES | Vergewaltigung – Schluss mit der Straflosigkeit! (blog_traumatherapie_luebeck)

Psychotraumatologie & Traumatherapie | Geschichte (blog_gestalttherapie_luebeck)

Gewalt & Macht (EMMA, 03/2004)

Vergewaltigung – das straflose Verbrechen (EMMA, 10/2010)

Der Justizminister & die Kinderfreunde (EMMA, 04/2014)

FACHBÜCHER

Die Narben der Gewalt (Judith Herman)

Das verfolgte Selbst (Onno van der Hardt, Ellert Nijenhuis, Kathy Steele)

Die Trauma-Trinität (Ellert Nijenhuis)


 

3 thoughts on “Aussagepsychologie vs. Psychotraumatologie”

  1. Herzlichen Dank für diesen Artikel!
    Prof.Steller war als Gutachter in meinem (gescheiterten) Opferentschädigungsverfahren involviert und schrieb nicht nur über meine individuelle Situation, sondern konstatierte z.B. auch, Menschen mit einer Dissoziativen Identitätsstörung hätten eine „Disposition zur Realitätsverkennung“, besonders auf biographische Details bezogen. Außerdem formulierte er, die Diagnose „posttraumatische Belastungsstörung“ dürfe ohne „objektive Beweise“ eines stattgefundenen Traumas gar nicht gestellt werden. Und so weiter, und so fort. Über Gerichtsgutachter dieser „Art“ muss meiner Meinung nach deutlich offensiver auch in Psychotraumatherapeuten-Kreisen berichtet werden und eine klare Verbindung zur „False Memory“-Bewegung hergestellt werden. Eventuell von Interesse könnte in diesem Zusammenhang mein Blogartikel sein:
    https://geteilteansichten.wordpress.com/2017/10/20/die-guten-die-boesen-und-politisches/

    1. Vielen Dank für den Kommentar und das Teilen des Links.
      Die Intension von Backlash und „False-Memory-Bewegung“ wird auch in diesem EMMA-Artikel wieder einmal sehr transparent dargestellt.
      TraumatherapeutInnen, BeraterInnen, RechtsanwältInnen und andere HelferInnen werden in ihrer täglichen Praxis immer wieder mit diesem Thema konfrontiert.

      Die parteiliche Unterstützung von Opfern sexualisierter Gewalt und dem Aufdecken von Ursachen und Hintergründen hat auch in Deutschland eine lange Tradition.
      Der Feminimus der 1980er/-90er Jahre hat u.a. auch eine Generation von TraumatherapeutInnen/-BeraterInnen hervorgebracht, die sich, trotz Anfeindungen jeglicher Art, seit Jahrzehnten einsetzen für die gesellschaftliche Anerkennung der Folgen von Gewalt gegen Frauen und Kinder, für eine spezifische Behandlung von traumabezogenen dissoziativen Störungen und die Etablierung von strukturellen Rahmenbedingungen, die die erforderlichen Therapien möglich machen könn(t)en und müss(t)en.

      Die Stimmen derer, die nicht müde werden, Überlebende tagtäglich engagiert zu begleiten, finden, in der von Herabwürdigung und Hetze gegen Opfer und HelferInnen geprägten Medienlandschaft, wenig Gehör.
      JournalistInnen, wie hier Chantal Louis, geben diesem Thema einen Platz in der medialen Öffentlichkeit.
      Unterstützt werden kann diese mutige Arbeit z.B. auch durch den Kauf des EMMA-Magazins.
      Über 5-Sterne-Bewertungen des Blog-Artikels würde ich mich sehr freuen. So könnten die Stimmen vieler, die das Themas wichtig finden, auch öffentlich ein wenig sichtbarer werden.

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