2014 in review | Oder wie neue Pfade entstehen können

Die WordPress.com-Statistik-Elfen haben einen Jahresbericht 2014 für dieses Blog erstellt.
Hier ist ein Auszug:
Die Konzerthalle im Sydney Opernhaus fasst 2.700 Personen. Dieses Blog wurde in 2014 etwa 17.000 mal besucht. Wenn es ein Konzert im Sydney Opernhaus wäre, würde es etwa 6 ausverkaufte Aufführungen benötigen um so viele Besucher zu haben, wie dieses Blog.“

Sidney. Hauptstadt des australischen Bundesstates New South Wales und mit mehr als vier Millionen Einwohnern größte Stadt des fünften Kontinents. Sidney ist heute eine lebendige Großstadt mit vielen Sehenswürdigkeiten, das berühmte Opernhaus ist nur eines davon, umgeben von atemberaubender Natur, darunter unberührtes Buschland, Sandsteinfelsen, eine artenreiche Flora und Fauna und mit nicht weniger als 172 Strände im Stadtgebiet, einige davon sind bei Surfern weltbekannt. So oder ähnlich könnte ein Reisebericht beginnen über diese australische Stadt, die Jahr für Jahr Touristenströme anlockt.
Wie nun aber den Bogen spannen zu einer Therapiegeschichte? Nun, vielleicht mit einem kleinen Blick zurück auf Sidneys wechselhafte Geschichte.

Im 18. Jahrhundert entdeckte Captain James Cook die Botany Bay, die südlich des heutiges Stadtkerns von Sidney liegt. Es wurde eine Strafkolonie errichtet. 1788 traf eine Flotte von 11 Schiffen mit 1500 Menschen an Bord in Sidney Harbour ein. Die Hälfte davon waren Strafgefangene aus überfüllten englischen Gefängnissen. Während der Zeit der Gefangentransporte wurden 160 000 Strafgefangene nach Australien gebracht. Und damit Not und Elend.
Im 19. Jahrhundert schaffte der Gouverneur Lachlan Macquarie die Vorraussetzungen für die Entwicklung von der Strafkolonie zu einer freien Stadt. Er ließ Straßen, Brücken und öffentliche Gebäude bauen und sandte Entdecker aus, um einen Weg durch die Blue Mountains zu finden, die bis dahin Sidney abgeschnitten hatten vom westlichen Umland.

Und damit sind wir bei der Therapiegeschichte: Wie neue Pfade entstehen können.

Am Anfang steht ein „so ist es nicht gut“.
Etwas fehlt, ist zu eng, reicht nicht aus, tut nicht gut. Da ist ein Mangel. Da gibt es Begrenzungen. Da sind irgendwie Behinderungen, die die Entfaltung eigener Fähigkeiten stören. Hindernisse, die eigentlich vorhandene Möglichkeiten beschränken, die man aber nutzen können müsste, um ein freies Leben leben zu können.
Vielleicht kann man schon hier oder da erkennen, was das ist, was nicht gut ist. Vielleicht ist da aber auch nur so ein ganz vages Gefühl von „so ist es nicht gut“. Dann taucht da vielleicht ein „so will ich das nicht mehr“ auf, das ein „ich will, dass das anders wird“ im Schlepptau hat.
Vielleicht gibt es dafür am Anfang noch keine Worte. Vielleicht ist es einfach nur so ein schwammiges Empfinden. Und dennoch…
Wenn das da ist, wurde bereits eine Art Weiche gestellt.

„So ist es nicht gut. So soll es nicht bleiben. Es soll anders werden. Besser.“
Das ist quasi der erste Schritt. Der erste Schritt, der den Blick über den „Tellerrand“ schweifen lässt. Der das suchen lässt, was anders ist, besser. Der nach einem Weg Ausschau hält. Hinaus aus den „Spurrillen“ des Vertrauten, die einen immer wieder zurückführen zu Enge und Begrenztheit der inneren „Strafkolonie“. Der die Kraft frei werden lässt, sich auf den Weg zu machen.

 „Auch der weiteste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.“ (Konfuzius)

Man schaut sich um. Man schaut in sich hinein. Man probiert das eine und versucht das andere. Holt sich Rat bei Freuden und Familie. Setzt einen Schritt nach dem anderen. Gut, wenn es klappt.
Was aber, wenn’s nicht klappt. Wenn man dieses oder jenes oder noch was anderes immer wieder aufs Neu ausprobiert und dann noch was anderes und dann doch immer wieder feststellt „irgendwie funktioniert das alles so nicht“. Wenn man das Gefühl hat „irgendwie stecke ich fest“.

Auf dem Lebensweg begegnen uns Hindernisse. Welche können aus dem Weg geräumt werden. Andere lassen uns Umwege machen. Wieder andere „verschütten“ unsere Spur.
Wenn ein Mensch bereits hineingeboren wird in ein Umfeld, das die entwicklungsbedingten Fähigkeiten eines Kindes überlastet, entstehen Reaktionsmuster, die dabei helfen, unaushaltbare seelische Überforderungen auszuhalten, die aber auch für innere Begrenzungen sorgen. Solche Überlebensstrategien wirken auch nach Ende der belastenden äußeren Umstände fort und schränken auch die weitere Entwicklung von Wahrnehmungsfähigkeit, Bindungsfähigkeit, Selbst-Sicherheit und anderen psychischen Funktionen ein. Dann ist es schwierig, alleine der eigenen Spur zu folgen und den Weg raus zu finden.
Wie wäre es, wenn man dann etwas ganz anderes versuchen würde? Wenn man jemanden suchen würde, der beim Suchen hilft? Jemand, der Erfahrung hat mit Suchen, Entdecken und Finden. Jemand, der vielleicht Fähigkeiten mitbringt, die helfen können, eigene Fähigkeiten zu entdecken, zu festigen, (weiter) zu entwickeln. Jemand, der Mut macht, den nächsten Schritt zu probieren, auch wenn man verzagt oder verzweifelt ist.

Der Gouverneur Lachlan Macquarie sandte Erforscher aus, um einen Weg zu finden, der Sidney mit dem Umland verbindet. Ich weiß nicht, ob Macquarie das Glück hatte, gleich auf Anhieb Erforscher zu finden mit genau den Fähigkeiten, die er für diese Aufgabe geeignet fand. Ich weiß auch nicht, ob die Erforscher gleich beim ersten Anlauf das Glück hatten, den richtigen Weg zu finden.
Macquarie ließ Straßen und Brücken bauen. Dazu brauchte er Hilfe. Allein geht das nicht. Und sicher ist beim Bau immer mal wieder etwas schief gegangen. Vermutlich gab es Unfälle. Vielleicht sogar Katastrophen.

Psychotherapie ist auch so eine Art Expedition durch unbekanntes Terrain.
Auch hier steht zu Beginn ein „So ist es nicht gut. Das soll anders werden. Besser.“
Auch hier die Entscheidung, Hilfe zu suchen, um den eigenen Weg zu finden.

Der Gouverneur von Sidney muss beim Blick auf die Strafkolonie wohl auch den Gedanken „So ist es nicht gut. Das soll anders werden. Besser.“ gehabt haben. Daduch wechselten die Gedanken die Richtung, heraus aus dem Althergebrachten, und liefen dann schon mal voraus in Richtung Veränderung.
Das ist quasi der erste Kieselstein, der eine Spur legt auf der Suche nach dem neuen Weg.
Es braucht viele Kieselsteine, um einen Pfad entstehen zu lassen. Große und kleine. Ganz winzige. Beeindruckende und unscheinbare. Bunte und triste. Runde und eckige.
Ein Pfad wird zu einem trittfesten Weg nach vielen Überprüfungen, dass die Richtung stimmt, und wenn ihn Schritte immer wieder und wieder befestigen.

Auch eine Reise von tausend Meilen beginnt unter deinem Fuß.“ (Laotse)

Gestalttherapie geht davon aus, dass in jedem Menschen das Streben nach Veränderung hin zum Guten vorhanden ist und dass eine Art innere Weisheit existiert, die genau weiß, wie Heilen geht und was es dazu braucht. Der Kontakt zu dieser inneren Weisheit kann überlagert sein von Auswirkungen schwieriger Lebenserfahrungen, ist möglicherweise sogar unterbrochen.
Dann gilt es die Spur aufzunehmen. Kieselsteine sammeln. Einen Fuß vor den anderen setzen. Zu überprüfen. Auf die Spur zurückblicken. Vergleichen. Richtung betrachten. Verzagt sein. Mut in die Hand nehmen. Stehen bleiben. Warten. Stolpern. Verirren. Spur wieder aufnehmen. Wieder einen Schritt setzen.
Immer nur ein Schritt. Immer nur der Schritt, der gerade vor einem liegt.
Es ist immer nur ein Fuß, der auf einmal gesetzt wird.
Es ist ein Fuß, der den großen Zeh vorstrecken kann, um das Terrain abzutasten und zu überprüfen, ob der Boden, der direkt unter diesem Fuß liegt, tragen kann.
Es ist jedes Mal nur ein einziger Schritt.

Vielleicht mussten sich Macquaries Erforscher mühsam durch unwegsames Gelände arbeiten, durch dichten Urwald, mussten Klippen und Abgründe überwinden, reißende Flüsse überqueren, begegneten gefährlichen Tierarten, mussten Wind und Wetter trotzen. Vielleicht haben sie sich ein ums andere Mal verirrt, sind vom Weg abgekommen.
Niemand von ihnen hatte die Gewissheit, dass sie ihren Weg finden würden. Es gab keine Garantie, keinen Beweis, dass sie finden würden, wofür sie ausgezogen waren. Dennoch gingen sie weiter. Schritt um Schritt. Jeder Schritt führte sie weiter durch das neue, unbekannte Land.

Der Weg ist das Ziel.“ (Konfuzius)

Jeder einzelne Schritt zählt.
Jeder Schritt auf dieser Forschungsreise brachte Entdeckungen und Erkenntnisse.
Jede gesammelte Erfahrung hatte Bedeutung und war hilfreich bei der nächsten Herausforderung, die es zu meistern galt.
Manches war sicher nicht gleich nutzbar. Für manches brauchte es vielleicht eine weitere Entdeckung, eine andere neue Erfahrung, um Bedeutung und Nutzen erkennen zu können. So wie bei einem Puzzle die Einzelteile erst ihren richtigen Platz finden müssen, damit das Ganze sichtbar und die Bedeutung erkennbar wird.

Der Therapieprozess in einer Traumatherapie kann bisweilen dem Weg durch eine Art Minenfeld gleichen. Selbst der vorsichtigste Schritt vorwärts rührt an Trauma-Inhalte, die damals dissoziiert werden mussten, um zu überleben. Ähnlichkeiten im Jetzt triggern wie der Auslöser einer Bodenmine. Erkennen und Überprüfen von Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen dem Damals und dem Heute müssen erst erlernt werden.

Als Macquaries Erforscher sich ihren Weg durch das Buschland bahnten, konnten sie anfangs nicht wissen, was sich im Dickicht vor ihnen verbarg, wenn sie ein Rascheln hörten. Sie wussten nicht, ob es ein gefährliches Raubtier war oder ein freundliches oder gar ein ängstliches Tier, das sich vor ihnen versteckte.
Zunächst war es ein Rascheln, das sie hörten, und vorerst klang das gleich.
Sie mussten erst die Unterschiede kennenlernen. Jedes Rascheln ist anders, wenn auch vielleicht nur ein klein wenig. Mit der Zeit konnten sie wohl immer besser erkennen, ob es das Rascheln eines Dingos, dem größten Raubtier Australiens, war oder ob das Rascheln von einem freundlichen Koala oder einem farbenprächtigen Papagei verursacht wurde.

Macquaries Leute brachten die Bereitschaft für Veränderung hin zum Guten mit.
Es war die Entscheidung, sich nicht länger mit Unerträglichem abfinden zu wollen, sondern dafür zu sorgen, dass es besser werden kann.
Aus Sicht der Gestalttherapie ist das alles, was es braucht, um sich auf den Weg zu machen, die eigene Spur zu finden.
Hürden, Hindernisse, Umwege und Verirrungen können dazu gehören. Jeder noch so kleine Erfolge setzt aber neue Kräfte frei, die beim nächsten Mal helfen, Schwierigkeiten ein bisschen besser zu meistern. Womöglich kann man erst später erkennen, dass man schon eine ganze Handvoll Kieselsteine bei sich trägt, die vielleicht beim Setzen der letzten paar Schritte bereits geholfen haben.

Lachlan Macquarie und seine Leute machten sich auf, aus einer Strafkolonie eine lebendige und lebenswerte Stadt zu machen. Sie taten das, ohne zu wissen, wie es einmal sein wird. Ohne zu wissen, ob sie die wichtige Verbindung zum Umland finden würden. Sie taten das in dem Wissen, dass es schwierig sein würde, anstrengend, und dass sie möglicherweise unbekannten Gefahren begegnen würden.
Sie taten es. Damit es besser werden konnte.

Neue Pfade entstehen beim Gehen.

Der Weg zu sich selbst in ein freies und selbstbestimmtes Leben kann möglicherweise lang und steinig sein. Dieser Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Direkt unter deinem Fuß.
Nur ein einziger. Jedes Mal.


Klicke hier um den vollständigen Statistikbericht zu sehen.


 

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