Körperorientierte Gestalttherapie | Ganzheitlichkeit & andere Ansätze

Gestalttherapie gehört zu den humanistischen Psychotherapieverfahren und ist damit dem humanistischen Menschenbild verpflichtet. Humanismus ist eine Weltanschauung, die sich durch das Bewusstsein für die Würde des Menschen auszeichnet. Zu den Prinzipien einer humanistischen Grundhaltung gehören Respekt, Toleranz, Eigenverantwortlichkeit, Selbstbestimmtheit, Gewaltfreiheit. (Links s.u.)
Das humanistische Menschenbild sieht den Menschen in seiner bio-psycho-sozialen Ganzheit und betrachtet ihn als einzigartiges, eigenständiges und wertvolles Individuum, das das Recht auf Freiheit und Wohlergehen besitzt, wobei die Verschiedenartigkeit aller Menschen respektiert und eigene wie auch die Grenzen anderer geachtet werden.
Seinem Wesen nach strebt der Mensch gleichzeitig nach Autonomie und Zugehörigkeit zu einer sozialen Gemeinschaft mit emotionaler Bindung zu anderen Menschen, sowie ebenfalls gleichzeitig auch nach Beständigkeit und Veränderung. („Grundformen der Angst“, Link s.u.).
Eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren beeinflussen während des Heranwachsens, ob bzw. in welchem Maß ein Kind lernen kann, flexibel auf innere Bestrebungen und äußere Situationsfaktoren zu reagieren und so die Fähigkeit zu entwickeln, anpassungsfähig zwischen Verlangen und Begrenzung zu pendeln um größtmögliche Zufriedenheit herzustellen.
Die Entwicklung eines kongruenten Selbstkonzepts, mit dem die intrapsychischen Widersprüchlichkeiten ausbalanciert sowie eine zufriedenstellende Anpassung an gegensätzliche Anforderungen im alltäglichen Leben gelingen kann, wird von gemachten Erfahrungen gefördert oder behindert. Aus humanistischer Sicht ist der Mensch mit Ressourcen für Entwicklung und Wachstum sowie mit Selbstheilungskräften ausgestattet, die ihn befähigen, Beeinträchtigungen bei der Entfaltung eigener Potentiale auszugleichen bzw. seelische Verletzungen heilen zu lassen.

Als humanistisches Psychotherapieverfahren geht Gestalttherapie davon aus, dass der Mensch grundsätzlich Wachstumspotential und Selbstheilungstendenzen mitbringt und von Natur aus den Willen besitzt, ein Leben in Freiheit zu erstreben und mit Sinnhaftigkeit zu gestalten. Das Störungsmodell der Gestalttherapie unterscheidet sich daher von anderen Psychotherapieverfahren u.a. dadurch, dass Gestalttherapie den Begriff „Krankheit“ als problematisch erachtet. Gestalttherapie betrachtet psychische Störungen als kreative Leistung der Seele, um beängstigende Erfahrungen und destruktive Lebensumstände aushalten und überstehen zu können. Die Arbeit an „Defiziten“, also eine psychotherapeutische Behandlung im Sinne von „weg-therapieren“ von unerwünschten, sozial geächteten oder quälenden Symptomen, ist der Gestalttherapie fremd.
Aus gestalttherapeutischer Sicht kann die Ausbildung psychopathologischer Symptome im Zusammenhang mit belastenden, beängstigenden, verstörenden oder überwältigenden Lebensumständen betrachtet und als psychische Bewältigungs- bzw. Überlebensstrategie verstanden werden. Während des Erlebens überfordernder oder destruktiver Situationsfaktoren  diente das Hervorbringen bestimmter Reaktions- und Verhaltensmuster dem Ertragen nicht förderlicher oder schädigender Gegebenheiten und kann deshalb als notwendige psychische Anpassungsleistung gewertet werden.
Eine Anpassungsleistung in diesem Sinne bringt aber Erlebens- und Interaktionsmuster hervor, die eine zufriedenstellende Gestaltung der Persönlichkeit und der Lebenswirklichkeit beeinträchtigen oder aufgrund unflexibler Denk- und Handlungsmuster und unzureichender Emotionsregulation seelisches Leid aufrecht erhalten oder verstärken kann. („Kontaktstörungen“, Link s.u.)

Gestalttherapie ist erfahrungsorientiert.
In der gestalttherapeutischen Arbeit an aktuellen Belastungen und seelischen Verletzungen lädt die TherapeutIn die PatientIn ein, den aktuellen Moment mit allen Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen bewusst wahrzunehmen. Die PatientIn erhält die Möglichkeit, Empfindungen, Bedürfnisse, Impulse sowie vorhandene Ressourcen im Hier und Jetzt wahrzunehmen, ebenso wie erlebten Mangel, daraus resultierende innere Begrenzungen, Einschränkungen im Außen durch frühere und/oder aktuelle destruktive Lebensumstände sowie die eigenen unbewussten inneren Prozesse zu erkunden und verstehen zu lernen.
Lernen ist mehr als eine kognitive Leistung, mit der die Theorie bestimmter Dinge abgespeichert wird. Lernen geht nur durch eigene Erfahrungen. Nur wenn auch gespürt wird, mit welchen Gefühlen und Körperempfindungen auf etwas reagiert wird und „Verstand, Herz und Bauch“ ihre Empfindungen zusammenbringen, wird mit allen Sinnen und auf allen Ebenen des Seins eine Erfahrung verstanden, wodurch dem Erleben eine (neue) Bedeutung verliehen werden kann.
Im gestaltherapeutischen Setting kann die PatientIn sich und ihre inneren psychischen Prozesse mit allen Sinnesqualitäten bewusst erleben und Veränderungsschritte im eigenen, individuellen Tempo gestalten. Die PatientIn kann schrittweise lernen, eine feinere Bewusstheit für sich selbst und ihr Umfeld zu entwickeln, mehr Kontakt mit sich und anderen herzustellen, bessere Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, mehr Selbstwirksamkeit zu erleben und ihr Leben mit mehr Sinnhaftigkeit zu gestalten. Wichtige gestalttherapeutische Prinzipien dabei sind Achtsamkeit und Gewahrsein (Awareness).

Gestalttherapie ist phänomenologisch.
Die Phänomenologie kann als die Lehre von Erscheinungen und ihrer Zusammenhänge beschrieben werden. Der phänomenologische Ansatz der Gestalttherapie beruht auf der Annahme, dass Phänome (Erscheinungen) mit allen Sinnen wahrnehmbare Ereignisse sind. In der Gestalttherapie wird die Aufmerksamkeit bewusst auf in Erscheinung tretende Phänome (Gedanken, Vorannahmen, Bewertungen, Emotionen, Körpersensationen, Reaktionen und Handlungen, etc.) und damit auf das unmittelbar Erleb- und Wahrnehmbare gelenkt. In diesem Sinne entspricht das phänomenologische Bewusstsein dem gestalttherapeutischen Begriff des Gewahrseins.
Gestalttherapie geht davon aus, dass Veränderung nur im Jetzt, in der Gegenwart, stattfinden kann. Durch bewusste Hinwendung auf in Erscheinung tretende Phänomene, deren wertneutrale Wahrnehmung und interpretationsfreie Beschreibung dessen, was sich im gestalttherapeutischen Setting zeigt (in Erscheinung tritt), wird der Weg frei von der Wahrnehmung zur Erkenntnis: „So ist (war) es!“.
Erkenntnis wiederum ist die Voraussetzung für Einordnung und Bedeutungsgebung gemachter Erfahrungen und der (Weiter-)Entwicklung von Selbstkonzepten sowie deren Veränderung. Der erkenntnistheoretische Ansatz, der die Beschäftigung mit dem Sicht-, Fühl- und Erlebbaren des im aktuellen Moment Wahrnehmbaren im Fokus hat, ist aus Sicht der Gestalttherapie von besonderer Bedeutung. Gestalttherapie fragt deshalb danach, WIE etwas ist. Wichtiger als Fragen nach Erklärungen, Deutungen, Interpretationen, Hypothesen ist aus Sicht der Gestalttherapie die Wahrnehmung dessen, was jetzt gerade ist, und das Erkunden von Zusammenhängen, die bei Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen eine Rolle spielen. (Links s.u.)

Gestalttherapie ist ressourcenorientiert.
Gestalttherapie richtet ihren Blick auf individuelle Fähigkeiten und vorhandene Möglichkeiten. Die natürliche Fähigkeit zu persönlicher Entwicklung und individuellem Wachstum wird unterstützt und das Bedürfnis, lernen zu wollen und mit Neugier auf sich und die Welt Neues zu entdecken, wird ermutigt. Gestalttherapie fördert die Aktivierung und Stärkung vorhandener Ressourcen und das Streben der PatientIn nach (Weiter-)Entwicklung von Ressourcen, Wachstum, Selbstverwirklichung, von Autonomie und Authentizität.
Die Entwicklung destruktiver Erlebens- und Handlungsmuster hat zu irgendeinem Zeitpunkt in der Lebensgeschichte eines Menschen Sinn gemacht. Werden diese bewusst wahrgenommen und als Bewältigungs- bzw. Überlebensstrategien anerkannt, kann das Potential, das in Fähigkeiten liegt, die auf (selbst-)schädigende Weise benutzt wurden, auf nutzbringende Art für persönliches Wachstum eingesetzt werden.

Gestalttherapie ist prozessorientiert.
Das Ziel der Gestalttherapie liegt in der Förderung von Entwicklungs- und Wachstumsprozessen, die die Verwirklichung der in jedem Menschen vorhandenen Potentiale unterstützt. Damit verbunden sind eine größere Bewusstheit und die Entwicklung neuer Handlungsmöglichkeiten, die eine flexiblere und angemessenere Anpassung an die Umwelt und eine komplexere Sinngebung des eigenen Lebens ermöglichen, wobei Gestalttherapie auf die jedem Menschen innewohnenden Selbstheilungskräfte vertraut.
Im gestalttherapeutischen Prozess liegt der Fokus auf den Erfahrungen, die die PatientIn während der gestalttherapeutischen Arbeit bewusst mit allen Sinnen macht. Gestalttherapie geht davon, dass eigene, bewusst erlebte Erfahrungen Wachstumsmöglichkeiten im Hier und Jetzt fördern. Wichtiger als das Erreichen eines bestimmten Ziels sind aus gestalttherapeutischer Sicht die Erfahrungen und Lernschritte, die auf dem Weg zum Ziel gemacht werden und die bereits aus sich selbst heraus bereichernd und sinnstiftend wirken können.

Gestalttherapie ist körperorientiert.
In der Gestalttherapie wird der Mensch wird als verkörpert gesehen. Körpererleben und Körperausdruck stehen in enger Verbindung mit kognitiven und emotionalen Prozessen und bedingen sich gegenseitig.
Bewusstsein beginnt mit Körperbewusstsein. Schon im Mutterleib beginnt der heranwachsende Fötus sich selbst und die ihn umgebenden Wände der Gebärmutter zu berühren. Kleine Kinder er-fassen ihre Umwelt, indem sie alles anfassen. Körpergrenzen trennen und verbinden Mensch und Umwelt und müssen gespürt, erlebt und erfahren werden können, um ein Konzept von Identität entwickeln zu können. Dem Menschen als verkörpertes Wesen dient der Körper als „Instrument“, mit dem das Ich und das Du be-griffen werden kann.
Im Körper werden bio-psycho-soziale Erfahrungen gespeichert. Unerfüllte (unbewusste) Bedürfnisse und Folgen psychischer Verletzungen drücken sich auch durch körperliche Phänomene aus; ebenso wie das (unbewusste) Wissen darüber, was Körper, Geist und Seele brauchen, damit es einem Menschen auf allen Ebenen des Seins (wieder) gut gehen kann. Gestalttherapie unterstützt deshalb die PatientIn, Körperempfindungen und Körperimpulse bewusst wahrzunehmen und nutzt dieses „Körperwissen“ für die Entwicklung und Verfeinerung von Bewusstheit und Verstehen in Bezug auf Gefühle, Gedanken, Körpersensationen, Verhaltensweisen und Identitätsempfinden der PatientIn.

Gestalttherapie ist dialogisch.
Das dialogische Prinzip in der Gestalttherapie wird von verbaler und nonverbaler Kommunikation zwischen zwei Menschen bestimmt und ist Teil sozialer Interaktion. Im Dialog geht es darum, in Beziehung zu einem anderen Menschen zu treten, und zwar mit einer Haltung, die von Respekt gegenüber der anderen Person gekennzeichnet ist, auch wenn diese andere oder von der Norm abweichende Lebenskonzepte verfolgt.
Die dialogische Haltung in der Gestalttherapie orientiert sich an der existentiellen Beziehungsphilosophie (Martin Buber). Das Handeln aus einer Ich-Du-Haltung heraus, die eine Hinwendung zum anderen Menschen auf gleicher Ebene ermöglicht, ohne dabei einen Zweck zu verfolgen, und bei der die andere Person in ihrer Einzigartigkeit wertgeschätzt wird, versteht Buber als eine besondere Begegnung, die ein hohes Maß an Authentizität und Wahrhaftigkeit erfordert. Aus Sicht der Gestalttherapie ist daher Kontakt der wichtigste therapeutische Wirkfaktor.
Die therapeutische Beziehung zwischen TherapeutIn und PatientIn wird horizontal gestaltet; von ExpertIn zu ExpertIn.
Gestalttherapie betrachtet die PatientIn als ExpertIn ihres eigenen Leben. Die PatientIn ist die einzige Person, die wissen kann, auf welche psychophysiologische Weise sie etwas erlebt, wie sie Erlebtes empfindet, bewertet oder wie sie handelt. Dieses Wissen ist Ausgangspunkt für alle gestalttherapeutischen Schritte. Bewusste Wahrnehmung und werturteilsfreie Beschreibung dessen, was sich im gestalttherapeutischen Setting zeigt, fördert den Kontakt der PatientIn zu sich selbst und damit auch ein besseres Verstehen in Bezug auf ihr inneres Erleben sowie den Ursachen für belastende oder destruktive Reaktions- und Verhaltenweisen.
Die GestalttherapeutIn stellt ihr ExpertInnenwissen in Bezug auf die Gestaltung eines gestalttherapeutischen Therapieprozesses zur Verfügung und versteht sich selbst als WegbegleiterIn, deren Aufgabe es ist, ihr Wissen und ihre Erfahrung dafür einzusetzen, die PatientIn zu ermutigen und zu unterstützen, ihren eigenen Weg in Richtung hin zum Guten zu finden. Die Gestalttherapeutin nimmt ihre Vorannahmen, Vermutungen und Erwartungen bewusst wahr, stellt diese aber zurück, um der PatientIn offen mit allen Sinnen begegnen zu können. Im Kontakt mit der GestalttherapeutIn kann die PatientIn eine annehmende, wertschätzende und respektvolle Beziehungsgestaltung erfahren und neue Möglichkeiten des in-Kontakt-Tretens mit sich selbst und mit anderen entwickeln.
Aus gestalttherapeutischer Sicht ist es weder Aufgabe der TherapeutIn, Veränderung bei der PatientIn „herzustellen“, noch zu erarbeitende Veränderungen als Ziele vorzugeben, die die PatientIn erreichen „sollte“. Gestalttherapeutische Methoden werden von der GestalttherapeutIn angeboten und zusammen mit der PatientIn an die Bedürfnisse und Möglichkeiten der PatientIn angepasst. Die gestalttherapeutische Arbeit wird als gemeinsame Entwicklungsleistung angesehen.

Gestalttherapie ist integrativ.
Sowohl in der konkreten Arbeit am aktuellen Thema als auch in der Beziehung zwischen TherapeutIn und PatientIn wird der Kontakt der PatientIn zu sich selbst und zur Umwelt gefördert, um Kontaktstörungen (Link s.u.) aufzulösen und das wieder-in-Verbindung-bringen abgewehrter, verdrängter oder dissoziierter innerer Anteile zu unterstützen, damit Getrenntes, das zusammen gehört, schrittweise wieder zusammenwachsen kann.
In der Gestalttherapie wird von Anteilen gesprochen, um intrapsychische Polaritäten zu beschreiben. Fritz Perls, der Begründer der Gestalttherapie, entwickelte dafür das Konzept „Topdog – Underdog“ . Die Topdog-Underdog-Dynamik dient (unbewusst) dem Ziel, Angst zu vermeiden. Topdog beschreibt den intrapsychischen Anteil, der die Einhaltung gesellschaftlicher und familiär geprägter bzw. erzwungener Normen fordert und kontrollieren will. Underdog begehrt auf gegen Mangel, Einschränkung, Ohnmacht, die Kontrolle durch Topdog und strebt nach Selbstverwirklichung. Bei starker Ausprägung lähmen die polaren Gegensätze („ich will“ vs. „das darf man nicht“) den Menschen.
Der gestalttherapeutische Begriff „Anteile“ wird mit einer anderen Bedeutung benutzt als der Begriff „Anteile“ in der Enaktiven Traumatherapie, die nach dem der Enaktiven Traumatherapie zugrundeliegenden Konzept der traumabezogenen strukturellen Dissoziation der Persönlichkeit (TSDP) als dissoziierte Persönlichkeitsanteile definiert werden. Im Unterschied zur Gestalttherapie spricht die Enaktive Traumatherapie bei der intrapsychischen Dynamik nach dem Topdog-Underdog-Modell von „Modi des Verlangens und Strebens“ .
Gestalttherapie fördert die Integration abgewehrter intrapsychischer Bestrebungen und fixierter Polaritäten und ermöglichst dadurch eine beginnende Neuordnung von hinderlich gewordenen Interaktionsmustern hin zu mehr Lebendigkeit.

Gestalttherapie ist enaktiv.
Der Enaktivismus wurde von den Philosophen und Neurowissenschaftlern Humberto R. Matura und Francisco J. Varela enwickelt. Die Wurzeln des Enaktivismus gehen aber auf den Neurologen und Psychiater Kurt Goldstein und gestaltpsychologische Studien über die Wahrnehmung zurück. Goldstein hatte engen Kontakt zur Mitbegründerin der Gestalttherapie Laura Perls und anderen GestalttherapeutInnen der ersten Stunde und stand für ein ganzheitliches Verständnis vom Menschen. „Aus seiner Sicht lässt sich der Mensch nur als Ganzheit, eingebettet in eine Umwelt mit sozialen Bezügen verstehen. […] Dieses ganzheitliche Verständnis kann nur erlangt werden, indem isoliert gewonnene wissenschaftliche Erkenntnisse zu einem sinnhaften Ganzen kombiniert werden, das über Ursache-Wirkungszusammenhänge hin­ausgeht indem sie zu einer Gestalt geordnet werden.“ (Kurt Goldstein Institut, Link s.u.)
Enaktivismus geht davon aus, das lebendige Organismen verkörpert (embodied) und in ihre Umwelt eingebettet (embedded) sind. Individuen als zielorientierte Organismus-Umwelt-Systeme streben danach, ihre Existenz zu erhalten und wollen als affektive Systeme sich und ihr Umfeld verstehen lernen und in diesem Rahmen ihre eigene Sinnhaftigkeit stiften. Als ein mentales und phänomenales Ich bringen sie eine Welt und ein Ich-als-Teil-von-dieser-Welt hervor und erlangen Wissen (Erkenntnisse) auf der Grundlage ihrer zielgerichteten sensomotorisch und affektiv beeinflussten Handlungen. (Links s.u.)
Der Begriff „enaktiv“ bedeutet, durch eigene Handlungen Sachverhalte zu erfassen bzw. sich Wissen zu erschließen. Handlungsbezogenheit in diesem Zusammenhang bezieht sich nicht nur auf kognitiv geprägte, sondern vor allem auf sensomotorisch und affektiv hervorgebrachte Handlungen.
Ist ein Mensch (schon früh) in seinem Leben mit einer nicht förderlichen oder schädigenden Umwelt konfrontiert, strebt der Organismus danach, die überwältigenden Erfahrungen zu überleben und gerät so in einen nicht lösbaren (frühkindlichen) Konflikt zwischen der Erfüllung eigener (überlebens-)wichtiger Bedürfnisse und der Anpassung an eine (lebens-)feindliche Umgebung. Im Sinne einer Bewältigungs- bzw. Überlebensstrategie wurden Reaktions- und Verhaltensmuster hervorgebracht (enagiert), die dem primären Ziel des Individuums, dem Überleben einer unerträglichen Situation, dienten. Das hat aber zur Folge, dass sensomotorische und affekte Handlungen, die der Entwicklung einer mit sich selbst und der Umwelt verbundenen Persönlichkeit dienen, unterdrückt, vermieden oder dissoziiert werden mussten. Im späteren Erwachsenenleben bleiben diese ursprünglich als Bewältigungsstrategie angelegten Erlebens- und Handlungsmuster erhalten, bleiben fixiert in eingeschränkter Wahrnehmung, Emotionsregulation, Bedeutungsgebung, Integrationsfähigkeit und Flexibilität in Bezug auf Handlungsmöglichkeiten. Diese Erlebens- und Handlungsmuster werden auch in Situationen wieder hervorgebracht (reenagiert), die real nicht bedrohlich sind.
Gestalttherapie arbeitet daher handlungsaktivierend und emotionsaktivierend, um das Hervorbringen von zunehmend komplexerer sensomotorisch-affektiver Handlungsfähigkeit mit Verbesserung von Flexibilität und Selbstwirksamkeit zu fördern.

Gestalttherapie ist ganzheitlich.
Eine bedeutender Unterschied zu Störungsmodellen und Behandlungskonzepten nicht humanistisch geprägter Psychotherapieverfahren besteht darin, dass Körper, Seele und Geist in der Gestalttherapie als verschiedene Aspekte einer untrennbaren Einheit betrachtet werden. Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen und Sinneswahrnehmungen werden nicht als isolierte Qualitäten, sondern in ihrem inneren Zusammenwirken sowie vor dem Hintergrund des sozialen und gesellschaftlichen Umfeldes eines Menschen gesehen und verstanden. Der systemische Blick in der Gestalttherapie richtet sich zum einen nach Innen auf intrapsychische Polaritäten und Dynamiken, die Entwicklung und Wachtum hemmen, stören, verhindern oder fördern können, wie auch nach Außen, wie z.B. auf die familiären Strukturen, in denen ein Mensch aufgewachsen ist, auf die aktuellen Lebensumstände, z.B. wie Kontakt und Interaktionsmuster im Familien- und Freundeskreis gestaltet werden, und bezieht dabei auch die sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umgebungsfaktoren mit ein.
Der Begriff Gestalt bedeutet Ganzheit, aber auch Erscheinungen (im humanistischen Sinn). Es gibt eine sprachliche Verwandschaft von „whole“, „health“ und „heil“ sowie von Erlebnisqualitäten mit der Bedeutung von „ganz sein“, „heil sein“ oder „das große Ganze“.
Das Eine exististiert nicht ohne das Andere. Nichts existiert für sich allein. Alles ist eingebettet in ein großes Ganze mit wechselseitigen Beeinflussungen. Mit dem Begriff „Gestalt“ ist etwas Existierendes gemeint, etwas, das da ist und wahrgenommen werden kann, etwas, das als Teil eines Ganzen mit allem verbunden ist und erst durch die Interaktion seiner Bestandteile zu einem Ganzen wird. Ein wichtiger Leitspruch in der Gestalttherapie lautet dementsprechend: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile.“

Gestalttherapie ist Grundlage einer Vielzahl anderer Psychotherapieverfahren oder es finden sich gestalttherapeutische Ansätze und Techniken im Methodeninventar anderer Therapieschulen. Psychotherapeutische Verfahren, die massgeblich durch die Gestalttherapie beeinflusst wurden, machen üblicherweise nicht transparent, dass deren Behandlungskonzepte auf gestalttherapeutischen Ansätzen und Methoden basieren.
Zu den Psychotherapieverfahren, deren Wurzeln auf die Gestalttherapie zurückgehen, gehören Traumatherapie, Systemaufstellungen, Ego-State-Therapie, Schematherapie, Sensumotorische Psychotherapie, Neurolinguistisches Programmieren (NLP), Emotionsfokussierte Therapie (EFT), Interaktionelle Therapie, Prozess-Erfahrungstherapie, erlebnisaktivierende Methoden der Verhaltenstherapie, u.v.a.m.


zum Weiterlesen:
Meine Gestalt – blog_gestalttherapie_lübeck (2011)
Gestalttherapie | Gestalt-Konzepte – blog_gestalttherapie_lübeck (2011)
Geschichte der Gestalttherapie – blog_gestalttherapie_lübeck (2012)
Gestalttherapie | Zitate – blog_gestalttherapie_lübeck (2012)
Gestalttherapie | Kontaktphasen – blog_gestalttherapie_lübeck (2013)
Gestalttherapie | Kontaktstörungen – blog_gestalttherapie_lübeck (2014)
Grundformen der Angst – blog_gestalttherapie_lübeck (2013)

Gestalttherapie einfach erklärt – Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie (DVG) e.V.
Gestalttherapie – Lotte Hartmann-Kottek (2004)
Erlebensaktivierende und die emotionale Verarbeitungfördernde Interventionen am Beispiel der Gestalttherapie – Uwe Strümpfel (2011)
Klinische Gestaltpsychotherapie und Forschung – Artikel & Studien
Beforschung von Gestalttherapie bei Angststörungen in Praxisumgebungen – Pablo Herrera, Illia Mstibovskyi, Jan Roubal & Philip Brownell (2019)
Gestalttherapie in der Behandlung verschiedener psychischer Störungen – Veröffentlichungen
Durch die Gestalttherapie beeinflusste Therapieverfahren – Gestaltpsychotherapie.de
Die Gestalttherapie richtet sich berufspolitisch auf. – Dr. Lotte Hartmann-Kottek (2020)

Der Beitrag des Enaktivismus-Konzepts der Kognitionswissenschaf zur Gestalttherapie* – Enara García (2019)
Enaktivismus – Werner Stangl (2021)
Enactive Mind – Uni Köln
Embodiment – Werner Stangl (2021)
Gestalttherapie Trauma und Polyvagaltheorie – Kurt Goldstein Institut

Humanistische Psychotherapie – therapie.de
Humanistische Verfahren – therapie.de

Was ist Phänomenologie? – Werner Eberwein (2015)
Stichwort: Phänomenologie – Lexikon der Gestalttherapie


 

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